Beim Stöbern in einem Buch über den 2004 verstorbenen Kardinal König bin ich über das „Abendgebet einer Nonne“ aus dem 16. Jhdt. gestolpert – eines der Lieblingsgebete des Kardinales.
Ok, ein Gebet ist in der Regel nichts Spektakuläres – aber für die Zeit, in der es entstanden ist, ist es schon etwas Besonderes.
Ich musste beim Lesen mehrmals schmunzeln, die Autorin muss wirklich eine besondere Frau gewesen sein. Dem Vernehmen nach wird das Gebet Therese von Avila zugeordnet. Viele kleine Schwächen, die ich auch bei mir feststelle, werden mit einem Augenzwinkern aufs Korn genommen. Wirklich lesenswert!
Nachstehend der Text, übernommen von dieser Seite (kardinalkoenig.at).
O Herr,
Du weißt besser als ich, dass ich von Tag zu Tag älter und älter und eines Tages alt sein werde.
Bewahre mich vor der Einbildung, bei jeder Gelegenheit und zu jedem Thema etwas sagen zu müssen. Erlöse mich von der großen Leidenschaft, die Angelegenheiten anderer regeln zu wollen.
Mach mich nachdenklich, aber nicht schwermütig, hilfsbereit, aber nicht bestimmend. Angesichts meines großen Reichtums an Lebensweisheit scheint es bedauerlich, nicht alles nützen zu können, aber du weißt, Herr, dass ich schließlich doch ein paar Freunde behalten möchte.
Bewahre mich vor der Aufzählung endloser Einzelheiten und hilf mir, die Dinge auf den Punkt zu bringen.
Lehre mich schweigen über meine Krankheiten und Beschwerden. Sie nehmen zu – und die Lust, sie zu beschreiben, wächst von Jahr zu Jahr. Ich wage es nicht, um so viel Gnade zu bitten, dass ich die Erzählungen anderer über ihre Schmerzen mit Freuden anhöre, aber hilf mir, diese mit Geduld zu ertragen.
Ich wage es nicht, ein besseres Gedächtnis zu erbitten, dafür aber zunehmende Bescheidenheit und abnehmende Selbstsicherheit, wenn meine Erinnerung mit der anderer in Widerspruch zu stehen scheint. Lehre mich die wunderbare Weisheit, dass ich mich irren kann.
Erhalte mich so liebenswert wie möglich. Ich möchte kein Heiliger sein – mit manchen von ihnen lebt es sich so schwer; aber ein Griesgram ist das Krönungswerk des Teufels.
Lehre mich, Gutes an unerwarteten Orten zu sehen und ungeahnte Talente in anderen zu entdecken – und verleihe mir, o Herr, die schöne Gabe, sie auch zu erwähnen.
Amen.